Zwei Frauen sind im Sommer 2010 in dem berühmten, nahe bei Bremen gelegene „Künstlerdorf“ Worpswede auf der Suche nach Juden. Ihr Rundgang führt zu einer „Entdeckungsreise“ in die Vergangenheit. Erinnerungen stellen sich ein. Später bringen Recherchen, Gespräche mit Zeitzeugen, Archivbesuche sowie das Auswerten von Akten und Zeitungen, Aufstöbern von alten Fotos Erstaunliches und Neues, aber auch viel Schreckliches und Trauriges zutage.
Zunächst beschreibt und würdigt A. Lehmensiek das Leben der jüdischen Menschen während des 19. und der ersten Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts. Abraham Leeser, Viehhändler und Schlachter, ist der erste Jude in Worpswede, der einen „Schutzbrief“ erhält und sich 1804 in Worpswede niederlässt – nachdem viele Eingesessene sich für ihn eingesetzt haben.
Im zweiten Teil – „Verfolgung, Verharmlosung und Vernichtung“ – schildert die Autorin, wie die Bürger jüdischer Herkunft, stigmatisiert und in ihrer Existenz bedroht, allein gelassen und ermordet werden. Im letzten Abschnitt „Überlebt“ stellt sie dar, in welcher Weise der Holocaust, aber auch die Zeit davor, bis heute präsent sind.
Juden kommen in zwei Schüben nach Worpswede. Im 19. Jahrhundert sind es Gewerbetreibende, Schlachter, Klempner und Händler, die sich in dem Ort eine neue Existenz aufbauen. Von der Künstlerkolonie angezogen, siedeln sich seit 1910 auch Künstler und Schriftsteller, ein Bildhauer und eine Malerin an. Was wie eine gelungene Integration aussieht, wird zunehmend in Frage gestellt und 1933 zerstört.
Insbesondere die Auswertung der Wiedergutmachungsakten vermittelt ein bedrückendes Bild vom Schicksal und der Ausweglosigkeit der in Worpswede ansässigen Juden – von ihrer Erniedrigung, Ausgrenzung, Ausraubung, Vertreibung und Vernichtung.
Nach 1945 gibt es wieder Juden in Worpswede, bis in die Gegenwart. Der Blick auf die geschichtliche Umgebung, wie etwa auf die Juden in den ländlichen Gebieten des 19. Jahrhunderts, auf die Künstlerkolonie und auf die Shoa, bis hin zum neu gegründeten Israel mit seinen Kibbuzim, rundet das vielgestaltige und präzis erfasste Bild ab.
Anning Lehmensiek fördert mit ihrem Einblick in das Leben jüdischer Menschen das Verständnis für die Sitten, Gebräuche und religiösen Vorstellungen des Judentums. Dabei sind ihr eindrucksvolle Porträts von Worpsweder Jüdinnen und Juden gelungen. So etwa über die zumeist in schwarz gekleidete und im Sommer 1942 nach Theresienstadt deportierte Rosa Abraham, den Kunstmäzen Klaus Pinkus und den Schriftsteller Erich Schargorodsky, den Kunstsammler und wohlhabenden Herrenschneider Walter Steinberg oder über den Maler, Grafiker und Schriftsteller Karl Jakob Hirsch, den das Leben in der Emigration an den Rand seiner Existenz brachte. Ihnen wie den vielen anderen nähert sich die Autorin behutsam, differenziert und überaus einfühlsam. Indem sie den Geschmähten und Opfern ihr Gesicht zurückgibt, verdeutlicht sie indirekt, welchen Schaden die Täter und Mitläufer sich selbst zugefügt haben.
Das Buch der 2022 verstorbenen Anning Lehmensiek war lange vergriffen. An ihrerm Text ist nichts geändert worden, doch sind das Format und Erscheinungsbild neu. Ergänzende Informationen, Dokumente, Fotos, Bilder und zeitgenössische Texte veranschaulichen das Leben der Juden in Worpswede und den Umgang mit ihnen. Zudem ist ihre Vertreibung und Vernichtung sowie ihr Versuch geschildert, nach 1945 in dem Ort wieder heimisch zu werden. Auch die zweite Auflage des wichtigen Werkes dient der Erinnerung, dem Nachdenken und der Mahnung.
186 Seiten, 165 Abbildungen, Hardcover